"Ich gehöre zu denen auf der Straße"

Interview mit Bärbel Bohley

die andere: Auf dem Delegiertentreffen wurde hauptsächlich über Wahlen und Wahlbündnisse geredet , für das Gespräch über außerparlamentarische Bündnisse und was das NEUE FORUM in Zukunft sein will, war zu wenig Zeit. Wie siehst du das?

Bärbel Bohley: Ja, unser Selbstverständnis sollte wirklich noch einmal ausführlich diskutiert werden. Interessant in diesem Zusammenhang war für mich, dass der Antrag auf Auflösung des NEUEN FORUM und eine quasi Neubildung als Grüne Partei der DDR mit übergroßer Mehrheit abgeschmettert wurde, was ja zeigt, dass die Leute als Bürgerbewegung weitermachen wollen.ich glaube, dadurch, dass wir uns an den vergangenen Wahlen beteiligt haben, ist etwas durcheinander gekommen. Es wird darauf zu viel Wert gelegt. Vergessen wird dabei, dass wir eigentlich eine außerparlamentarische Bewegung sind, die ein Bein im Parlament hat. Und damit wird meiner Meinung nach die Basis vergessen. Plötzlich streiten sich die Leute, die ins Parlament wollen, weil sie nur an die Macht der Parlamente glauben, und die Basis wird nicht mehr gehört.

die andere: Wie siehst du denn die Wahlchancen für das NEUE FORUM?

Bärbel Bohley: Ich glaube, dass die Wahl im Dezember ähnlich wie die am 18. März eine Stichwahl sein wird: entweder SPD oder CDU. De Bürgerbewegungen und die kleinen Parteien werden keine große Chance haben. Wichtige Wahlen werden die Landtagswahlen sein. Die Bürgerbewegungen müssen ihre Gedanken einbringen. Ich sehe ja jetzt im Rathaus, wie wenig wir bewirken können. Deshalb ist es auch unsinnig, sich so stark darauf zu konzentrieren, aber ein paar Dinge werden durchsetzbar sein. So wie wir es geschafft haben, dass in der Berliner Verfassung das Mittel des Volksentscheids verankert ist. Genauso ist es mit dem Paragraphen 218. Da haben wir uns stark gemacht, die Frauen vom Unabhängigen Frauenverband eingeladen und die SPD musste letztendlich bei ihrer Wahlaussage bleiben: Kein § 218.

Das steht nun in der Berliner Verfassung und bedeutet eine nicht zu übersehende politische Entscheidung, die bei der Diskussion um diesen Paragraphen nicht so leicht zu übergehen ist.

Weiter haben wir durchgesetzt, dass es einen Bürgerbeauftragten gibt. Er soll der Mittler zwischen dem Bürger, Bürgerinitiativen, den Bürgerbewegungen und dem Parlament sein. Wir haben die Vorstellung, so eine Art Runden Tisch, an dem alle außerparlamentarischen Organisationen und Gruppen sitzen, fortzuführen. Der Bürgerbeauftragte soll deren Forderungen dann durch Anträge ins Parlament einbringen können.

die andere: Das ist jetzt also in der Berliner Verfassung verankert. Wissen die Abgeordneten auf der Stadtbezirksebene davon, damit sie auf ihrer Ebene ähnliches installieren können?

Bärbel Bohley: Das ist nun wieder der Nachteil, wenn man im Parlament sitzt. Deshalb kritisiere ich das ja. Du wirst so mit Arbeit zugedeckt, dass es schwierig ist, das zu tun, was eigentlich nötig wäre: in die Stadtbezirke zu gehen und in die Betriebe. Es hängt zu viel von der Kraft der eigenen Person ab.

die andere: Was können die Parlamentarier der Bürgerbewegungen denn nun konkret aus ihrer Minderheitenposition heraus bewirken?

Bärbel Bohley: Wir können die Parteien an Koalitionsvereinbarungen, an ihre Wahlaussagen erinnern und bei dem einen oder anderen setzt dann vielleicht das schlechte Gewissen ein: Sie folgen nicht mehr einem Fraktionsbeschluss, sondern ihrem Gewissen. Wichtig ist auch, dass man vom Parlament aus die Bürgerbewegung stärken kann, indem man ihre Forderungen ins Parlament bringt und versucht, sie durchzusetzen. Und gleichzeitig erhält man auf dieser Ebene Informationen, an die man sonst überhaupt nicht herankommt. Deshalb war es uns ja so wichtig, dass die Bürgerbewegungen das Recht auf Akteneinsicht bekommen, was aber durch die Geschäftsordnung der jeweiligen Ausschüsse wieder eingeschränkt wird.Das heißt, dass wir in den Ausschüssen vertreten sein müssen Und die Informationen stärken natürlich die Arbeit der Bürgerbewegungen. Wissen ist Macht.

die andere: Du gehörst zu denjenigen, die sich gegen eine Teilnahme an gesamtdeutschen Wahlen ausgesprochen haben. Warum soll das, was du für die Landtage und die Kommunalparlamente genannt hast, nicht in einem gesamtdeutschen Parlament möglich sein?

Bärbel Bohley: Ist es bestimmt auch, aber nicht bei dieser Wahl die wie gesagt, für mich eine Entweder-Oder-Wahl ist: Kohl oder die SPD.

Für uns als Bürgerbewegung liegen in der nächsten Zeit die Aufgaben auf der Straße und nicht so sehr im Parlament. Im Parlament werden "Die Grünen" vertreten sein. Weshalb sollten wir da noch Grüne werden? Wir geben das Vertrauen in die eigene Kraft auf, wenn wir nur noch auf Parlamente hoffen. Und es hat mich erschüttert, wie schnell es doch geht, dass die Parlamentarier daran interessiert sind, Parlamentarier zu bleiben, wie schnell sie mit "wir" sich selbst meinen und mit "ihr", die draußen. Das ist auch so ein unerträglicher Zustand für mich. Wenn vor dem Rathaus die Leute demonstrieren und ich da drinnen sitze. Ich gehöre zu denen draußen.

die andere: In der Begründung zu dem Antrag,lieber auf Sessel im ersten gemeinsamen Parlament zu verzichten, hieß es unter anderem, dass die vier Jahre bis zur nächsten Wahl genutzt werden sollen, damit eine gesamtdeutsche Bürgerbewegung wachsen kann. Wo siehst du Ansätze dafür? Unsere Bewegungen, speziell das NEUE FORUM, sind ja aus dem Bedürfnis nach einem gesamtgesellschaftlichen Dialog entstanden.

Bärbel Bohley: Die Bundesbürger haben seit 40 Jahren Erfahrungen mit ihrer Parteienlandschaft gemacht. Die Unzufriedenheit wächst. Und gerade durch die Folgen dieser übereilten Vereinigung, von denen die Menschen im Westteil demnächst auch betroffen sein werden, werden sie nach Wegen suchen, sich Gehör zu verschaffen. Und dazu müssen Elemente der direkten Demokratie erkämpft werden. Möglichkeiten, die eigenen Interessen auch zwischen den Wahlen einbringen zu können. Ich habe inzwischen viele kennengelernt, die das so sehen.

Das Gespräch führte Tina Krone

die andere, Der Anzeiger für Politik, Kultur und Kunst, Nr. 26, Mi. 18.07.1990

Vom 06.-08.07.1990 fand in Strausberg das 5. DDR-weite Delegiertentreffen des Neuen Forum statt.
18. März 1990 Volkskammerwahl, 6. Mai 1990 Kommunalwahl, 14. Oktober 1990 Landtagswahl, 2. Dezember 1990 Bundestagswahl.

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